Es war ein Auswärtsspiel für beide Seiten. Aber diesmal, im vergangenen November, konnte die Slowakei in Wien einen seltenen Prestigesieg über den ewigen Konkurrenten Tschechien erzielen. Das Festival Wien Modem gab einen einwöchigen Überblick über die aktuellen Musikszenen Osteuropas, lud dazu neben Ensembles aus Rumänien oder Bulgarien auch solche aus Tschechien und der Slowakei ein und ließ die Vertreter der einstigen Bruderstaaten an einem Abend nicht gerade gegen-, aber doch unmittelbar nacheinander antreten.
Eröffnet wurde die Partie im Konzerthaus vom Team aus Tschechien, dem Prager Agon Orchester. Mangelnde Motivation prägte das Spiel, lustlos und schlampig nudelte sich die Mannschaft durch belanglose, von Rock und Minimal Music inspirierte Werke. Matter Applaus – Pause.
Ganz anders die zweite Spielhälfte. Im benachbarten Café Heumarkt lief das Orchester Požoň Sentimentál aus Bratislava zu Höchstform auf und genoss dabei sichtlich das vorteilhaft heruntergekommene Ambiente des ungewöhnlichen Austragungsorts. Zum Aufwärmen boten die vier Slowaken an Klavier, Akkordeon, Querflöte und Geige eine Auswahl herrlich schräg arrangierter Schlager von Johann Strauß bis Michael Jackson, um danach mit den zwischen Kurt Weill und Michael Nyman angesiedelten „Urban Songs“ ihres Kapitäns Marek Piaček den Sack zuzumachen.
Unterstützt wurde das Quartett dabei von Gastspieler Egon Bondy, einem aus Protest gegen die Auflösung der Tschechoslowakei nach Bratislava exilierten, tschechischen Philosophen Unbestimmten Alters, der – pittoresk eingebettet zwischen ein, zwei Krügerln Bier und dem nie versiegenden Rauch seiner Zigaretten Marke „Petra“ – den Vokalpart dieser hemdsärmeligen, modernen Arbeiterlieder übernahm. Das Publikum tobte – 1:0 für die Slowakei!
Ein bemerkenswerter „Sieg“, der dem Gewinn der Eishockey-Weltmeisterschaft 2002 für die Slowakei durchaus vergleichbar ist. Denn ähnlich wie beim Nationalsport des zehnfachen Titelträgers Tschechoslowakei/Tschechien hätten internationale Beobachter dem kleinen, seit nunmehr elf Jahren unabhängigen Bruder auch auf dem Gebiet der Musik wenig zugetraut. Gegen die reiche musikalische Tradition Böhmens und Mährens und so wohlklingende Komponistennamen wie Smetana, Dvořák oder Janáček hat die slowakische Musikgeschichte bis heute wenig aufzubieten.
Aus der Barockzeit sind kaum Werke überliefert, die Musik des meist Unter ungarischer Oberhoheit stehenden Landes war vorwiegend von der Folklore geprägt, wobei besonders in der Mittelslowakei und im Süden der Einfluss der Zigeuner dominierte. Der hierzulande bekannteste Komponist jüngerer Zeit ist wahrscheinlich Alexander Moyzes (1906–1984); der Slowakische Rundfunk brachte es mit seinem Experimentalstudio in den Sechzigern zu einigem internationalen Ansehen; und die bekannteste slowakische Musikerin ist sicherlich Edita Gruberová – wobei sich die 1946 in Bratislava geborene Operndiva schon 1970, im Zuge ihres Wiener Staatsoperndebüts in den Westen absetzte.
Und heute? Wer interessante und aktuelle musikalische Entwickungen aus der Slowakei aufspüren möchte, muss schon sehr genau und vor allem vor Ort suchen. Die Radiojournalisten Susanna Niedermayr und Christian Scheib kamen im Zuge ihrer Reportagereisen für die Ö1-Sendereihe „Im Osten“ auch durch die Slowakei und fassten ihre Eindrücke in einem Buch zusammen. In dem Kapitel „Ach wie gut, dass niemand weiß“ berichten sie von der „verborgenen Vitalitä“t der sbowakischen Musikszene. Ähnlich wie im Bereich der bildenden Kunst (siehe Seite 57) wurden ab den Achtzigern zahlreiche Initiativen, Gruppen und freie Radiostationen für zeitgenossische komponierte, improvisierte oder elektronische Musik gegründet – und mangels staatlicher Unterstützung in den allermeisten Fallen auch bald wieder eingestellt.
Einzig das 1987 nach dem Vorbild des Prager Agon Orchesters gegründete Veni Ensemble besteht bis heute und gilt nicht zuletzt deswegen als Kraftzentrum der Neuen und experimentellen Musik in der Slowakei. „Bis in die Achtzigerjahre gab es für uns nur zwei Informationsquellen“, zitieren Niedermayr und Scheib den Mitbegründer Daniel Matej. „Im Radio das ,Studio Neuer Musik’ auf Ö1, und als Festival den Warschauer Herbst, zu dem wir fahren durften. In Prag gab es dann das Agon Qrchester, und das erschien uns wie der große Bruder. So was wollten wir auch haben“.
Trotz seiner Niederlage beim eingangs erwähnten Wiener Match gegen Požoň Sentimentál war das Agon Orchester tatsächlich lange Zeit eines der führenden Avantgardeensembles des Ostblocks, das sich mittlerweile allerdings von der westlich geprägten Avantgarde abzusetzen versucht. Eine ähnliche Entwicklung durchlief auch das Veni Ensemble und – vor albem – das aus Veni-Mitgliedern bestehende Orchester Požoň Sentimentál.
Schon der Name dieses von Marek Piaček gegründeten Quartetts ist Programm: „Požoň“ ist die sbowakische Transkription des ungarischen Namens für Bratislava („Pozsony“). „Es ging uns um die Wiederbelebung einer alten Atmosphäre“, erklärt Piaček im Falter-Interview. „Im Sinne des Genius Loci ist unsere Musik in der Region verwurzelt, sie will Traditionen, Stilrichtungen und im weiteren Sinne auch das musikalische Ambiente Mitteleuropas transportieren und fördern. Sie ist der Versuch einer ästhetischen Rückkehr zu ursprünglichen Formen von Musik“.
Von gestrengen West-Avantgardisten mag eine solche Programmatik als naiv und nostalgisch belächelt werden. Tatsächlich aber greift sie nicht nur die stark folkloristisch geprägte Musiktradition der Slowakei auf, sie kann auch als ein Rekurs auf die international geprägte Vergangenheit der Region um das einstige Prešporok/Pozsony/Pressburg verstanden werden – und wird somit, gerade vor dem politischen Hintergrund der oft übersteigert nationalistisch um ihre Identität ringenden Slowakei, zu einer waschechten und vor allem eigenständig slowakischen Avantgarde-Position.
1 Susanna Niedermayr, Christian Scheib: Im Osten – Neue Musik Territorien in Europa. Reportagen aus Ländern im Umbruch. Saarbrücken 2002 (Pfau).
Aktuelle CD: Egon Bondy, Požoň Sentimentál: Urban Songs (Atrakt Art, www.pozon.sk).